Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz 1955
Überblick: Der gutbürgerliche Archibaldo wird von einem Kindheitstraum verfolgt, in dem eine Spieldose magische Kraft über Leben und Tod besaß. Der spätere Umgang mit dem zufällig wiederentdeckten Spielzeug verursacht lustvolle Versuche mit dessen angeblicher Kraft, die sich ohne direktes Zutun Archibaldos am Tod von vier Frauen erweist. Von der Spieldose befreit wird er erst durch seine Heirat, die ihn auch seinen psychopathischen Neigungen entkommen läßt.
Kommentar
Als Kind musste Archibaldo (Ernesto Alonso) mitansehen, wie sein Kindermädchen erschossen wurde, während er gerade eine Spieldose bestaunte, die angeblich geheimnisvolle Kräfte besitzt. Fortan glaubt Archibaldo, er könne allein durch seinen Willen zum Mörder werden. Als er die Spieluhr im Erwachsenenalter wieder findet, packt ihn erneut der Drang, Frauen zu töten. Dummerweise aber kommt ihm das Schicksal immer wieder zuvor... Luis Buñuel inszenierte die heitere Groteske "Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz" (Ensayo de un crimen) in Mexiko und schuf damit eines seiner einflussreichsten Werke. Sein Archibaldo ist ein Träumer, der erotisches Interesse stets mit Mordlust verbindet. Frauen, die ihn sexuell anziehen, will er umgehend beseitigen, doch bevor er zur Tat schreiten kann, stürzen die Damen selbst in Fahrstuhlschächte, werden von Rivalen ermordet oder zufällig durch Querschläger getötet. Der kontinuierliche "Coitus Interruptus" ist ein Leitmotiv der Filme Buñuels, man denke nur an die Gelüste nach Essen und Sex im späteren "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" (1971), die nie ausgelebt werden können, weil immer etwas dazwischen kommt. Offenbar kennt Buñuel diese Unterdrückung des eigenen Verlangens nur zu gut, wobei ihm als Künstler Wege offen stehen, diese filmisch aufzuarbeiten. Der bekennende Fuß- und Schuhfetischist Buñuel lässt auch hier seinem Begehren freien Lauf, wenn das erste Opfer mit hochgerutschtem Rock tot auf dem Fußboden liegt und der kleine Archibaldo in Muttis Pumps herumstöckelt. Für eine ausschweifendere Betrachtung des Schuh-Fetischs empfehle ich Buñuels "Tagebuch einer Kammerzofe" (1964), in welchem Jeanne Moreau kaum etwas anderes tut als Stiefel an- und wieder auszuziehen. Dass die Lust auf Sex sofort Mordfantasien in Archibaldo freisetzt, das findet man später in Hitchcocks "Psycho" (1960) wieder, der zwar stets verleugnete, von anderen Regisseuren beeinflusst worden zu sein, die Ähnlichkeiten sind aber frappierend. Und auch anderswo findet man Elemente wieder, etwa im italienischen Giallo-Kino und den Werken Mario Bavas (ganz besonders in dessen Mannequin-Ode "Blutige Seide", 1966). Die Schaufensterpuppe, die Archibaldo im Ofen verbrennt, und deren Gesicht sich im Feuer langsam auflöst, ist ein Schreckensbild, das vielfach wieder aufgenommen wurde. Als Kind sah ich "Archibaldo de la Cruz" im Spätprogramm des Fernsehens und nahm ihn - wie Kinder das häufig tun - nicht als Komödie, sondern als Horrorfilm wahr. Wer Berührungsängste mit mexikanischen Filmen hat ("Archibaldo de la Cruz" liegt hierzulande in einer sehr guten OmU-Fassung auf DVD vor), dem sei gesagt, dass Buñuels schwarzer Humor dem britischen gar nicht unähnlich ist und gelegentlich an Klassiker wie "Adel verpflichtet" (1949) erinnert, auch wenn seine Themen durchaus grimmiger und sexueller sind. Der spanische Regisseur Pedro Almodóvar zollt in seinem Thriller-Melodram "Live Flesh" (1997) dem großen Vorbild seinen Respekt. Buñuel ist nicht nur ein fantasievoller Geschichtenerzähler, er liebt es auch, wenn in seinen Filmen Charaktere Geschichten erzählen und Träume erleben. So erzählt Archibaldo seine Geschichte einem Polizisten, der ihm am Ende versichert, nur wegen Mordgelüsten könne man ihn nicht einsperren. Das anschließende Happy-End ist so übertrieben unglaubwürdig, dass man es nur als Sarkasmus interpretieren kann. "Archibaldo de la Cruz" gehört zu Buñuels unterhaltsamsten und bösesten Filmen. Sein Spiel mit Tabus und Frivolitäten, sowie die Entlarvung des vornehmen Edelmannes, hinter dessen gepflegter Fassade düstere Sex- und Gewaltfantasien lauern, entschädigen für leichte Durchhänger im Mittelteil. Fazit: Sehr sehenswert und ein 'must see' für Cineasten.